Was ist engagierter Buddhismus?

Was ist engagierter Buddhismus?

Thich Nhat Hanh

Bei dem nachfolgenden Text handelt es sich um Auszüge aus dem Buch des vietnamesischen Zenlehrers, Poeten und Friedensaktivisten Thich Nhat Hanh: Innerer Friede, Äußerer Friede; erschienen im Theseus-Verlag Küsnacht, 1987

Viele von uns sorgen sich um die Lage der Welt. Wir wissen nicht, wann die Bomben explodieren werden. Wir fühlen, daß wir am Rande des Abgrunds stehen. Als Einzelne fühlen wir uns hilflos und verzweifelt. Die Situation ist bedrohlich, Ungerechtigkeit weitverbreitet, die Gefahr ist nahe. In dieser Lage werden die Dinge nur noch schlimmer, wenn wir in Panik verfallen. Wir müssen ruhig bleiben, um klar zu sehen. Meditation ist, achtsam zu sein und versuchen zu helfen. Ich benutze gerne das Beispiel eines kleinen Bootes, das den Golf von Siam überquert. In Vietnam gibt es viele Leute, genannt „boat peoble“, die das Land in kleinen Booten verlassen. Oft geraten die Boote in rauhe See oder Stürme. Die Leute können leicht in Panik geraten und das Boot kann sinken. Aber wenn nur eine Person an Bord ruhig und klar bleibt und erkennt, was getan und nicht getan werden muß, kann sie dazu beitragen, daß das Boot überlebt. Ihr Ausdruck – das Gesicht, die Stimme – überträgt Klarheit und Ruhe, und die Leute vertrauen dieser Person. Sie werden zuhören, was er oder sie sagt. Eine solche Person kann das Leben vieler retten.

Unsere Welt ist so ein kleines Boot. Mit dem Kosmos verglichen ist unser Planet ein sehr kleines Boot. Wir sind dabei, in Panik zu geraten, weil unsere Situation nicht besser ist als die des kleinen Bootes im Meer. Ihr wißt, daß wir mehr als 50.000 Atomwaffen haben. Die Menschheit ist eine sehr gefährliche Spezies geworden. Wir brauchen Menschen, die ruhig sitzen und lächeln und friedlich gehen können. Wir brauchen solche Menschen, damit wir gerettet werden. Der Mahayana-Buddhismus sagt, daß Du diese Person bist, jede(r) von Euch diese Person ist.(…)

Meditation bedeutet nicht, aus der Gesellschaft auszusteigen, der Gesellschaft zu entfliehen, sondern sich für einen Wiedereinstieg in die Gesellschaft vorzubereiten. Wir nennen das „engagierten Buddhismus“. Wenn wir zu einem Meditationszentrum gehen, mögen wir den Eindruck haben, daß wir alles hinter uns lassen – Familie, Gesellschaft und all die damit verbundenen Komplikationen – und als Individuen ankommen, um zu praktizieren und nach Frieden zu suchen. Schon das ist eine Illusion; denn im Buddhismus gibt es nicht so etwas wie ein Individuum.

So wie ein Stück Papier die Frucht, die Kombination von vielen Elementen ist, die Nicht-Papier-Elemente genannt werden können, ist das Individuum aus Nicht-Individuum-Elementen gemacht. Wenn Du ein Poet bist, wirst Du klar sehen, daß eine Wolke in diesem Stück Papier schwebt. Ohne Wolke gibt es kein Wasser; ohne Wasser können die Bäume nicht wachsen und ohne Bäume kannst Du kein Papier machen. So ist die Wolke darin enthalten. Die Existenz dieser Seite hängt ab von der Existenz einer Wolke. Papier und Wolke sind so nahe. Laß uns an andere Dinge denken, wie Sonnenschein. Sonnenschein ist sehr wichtig, weil der Wald nicht ohne Sonnenschein wachsen kann, und wir Menschen können ohne Sonne nicht wachsen. (…) Und wenn Du tiefer schaust, mit den Augen eines Bodhisattva, mit den Augen jener, die erwacht sind, siehst Du nicht nur die Wolke und die Sonne darin, sondern daß alles hier ist: der Weizen, der zum Brot für den Holzfäller wurde, des Holzfällers Vater – alles ist in diesem Stück Papier. Das „Avatamsaka Sutra“ schildert uns, daß Du nicht eine Sache zeigen kannst, die nicht eine Verbindung zu diesem Stück Papier hat. (…) Das Papier ist in einem Ausmaß aus all den Nicht-Papier-Elementen hergestellt, daß es leer ist, wenn wir die Nicht-Papier-Elemente zu ihren Quellen zurückführen, die Wolke zum Himmel, den Sonnenschein zur Sonne, den Holzfäller zu seinem Vater. Leer wovon? Leer von einem separaten Selbst. Es wurde hergestellt von all den Nicht-Selbst-Elementen, Nicht-Papier-Elementen und wenn all diese Nicht-Papier-Elemente herausgenommen werden, ist es wirklich leer von einem unabhängigen Selbst. Leer in diesem Sinne meint, daß das Papier voll von allem ist, dem gesamten Kosmos. Die Präsenz dieses kleinen Stückes Papier beweist die Präsenz des gesamten Kosmos.

In der gleichen Weise ist das Individuum aus Nicht-Individuums-Elementen gemacht. Wie kannst Du erwarten, alles hinter Dir zu lassen, wenn Du in ein Meditationszentrum eintrittst? Die Art von Leiden, das Du in Deinem Herzen trägst, ist die Gesellschaft selbst. Du bringst es mit Dir, Du bringst die Gesellschaft mit Dir. Du bringst uns alle mit Dir. Wenn Du meditierst, ist das nicht nur für Dich selbst, Du tust es für die ganze Gesellschaft. Du suchst Lösungen für Deine Probleme, nicht nur für Dich, sondern für alle von uns.(…)

Wir haben viele Schubfächer in unserem Leben. Wenn wir meditieren, und wenn wir nicht meditieren, sind diese zwei Zeitperioden ganz verschieden voneinander. Während wir sitzen, praktizieren wir intensiv und während wir nicht sitzen, praktizieren wir nicht intensiv. Eigentlich üben wir intensiv das Nicht-Praktizieren. Es gibt eine Mauer, die beides trennt, Üben und Nicht-Üben. Praktizieren ist nur für die Übungsperiode und nicht praktizieren ist nur für die Nicht-Übungs-Periode. Wie können wir die beiden zusammenbringen? Wie können wir Meditation aus der Meditationshalle heraus und in die Küche und das Büro bringen? (…) Ein Lächeln, ein Atem sollte zum Wohl des ganzen Tages sein, nicht nur für diesen Moment. Wir müssen in einer Art und Weise praktizieren, welche die Schranke zwischen Praktizieren und Nicht-Praktizieren entfernt.

Wenn wir in der Meditationshalle gehen, setzen wir die Schritte sorgfältig, sehr langsam. Aber wenn wir zum Flughafen gehen, sind wir eine ziemlich andere Person. Wir gehen sehr anders, weniger achtsam. Wie können wir am Flughafen und auf dem Markt praktizieren? Das ist engagierter Buddhismus. Engagierter Buddhismus bedeutet nicht nur, Buddhismus zu benutzen, um soziale und politische Probleme zu lösen, gegen Bomben und soziale Ungerechtigkeit zu protestieren. Zu allererst müssen wir Buddhismus in unser tägliches Leben bringen.(…) Wenn Du weißt, wie Du Buddhismus zur Essenszeit, zur Schlafenszeit, während der Freizeit anwendest, wird, so meine ich, Buddhismus für Deinen Alltag sehr wichtig werden. Dann wird er eine gewaltige Wirkung auf soziale Beziehungen haben. Buddha, Dharma und Sangha werden dann Angelegenheiten des Alltags, zu jeder Minute, zu jeder Stunde unseres täglichen Lebens und nicht nur eine Bezeichnung für etwas weit Entferntes.(…)

Im Buddhismus ist der wichtigste Grundsatz, bewußt zu leben, zu wissen, was geschieht. Zu wissen was geschieht, nicht nur hier, sondern auch dort. Wenn Du beispielsweise ein Stück Brot ißt, magst Du Dir klarwerden, daß unsere Bauern für den Weizen ein wenig zuviel giftige Chemikalien benutzen. Indem wir das Brot essen, sind wir in irgendeiner Weise mitverantwortlich für die Zerstörung der Umwelt. Wenn wir ein Stück Fleisch essen oder Alkohol trinken, können wir das Bewußtsein dafür entwickeln, daß in der Dritten Welt täglich 40.000 Kinder verhungern und daß wir eine Menge Korn verbrauchen, um ein Stück Fleisch oder eine Flasche Alkohol zu produzieren.(…) Täglich tun wir etwas, sind wir etwas, was mit Frieden zu tun hat. Wenn wir unseres Lebenstiles, unserer Konsumgewohnheiten, unserer Betrachtungsweisen bewußt sind, werden wir wissen, wie wir in jedem Augenblick, den wir leben, Frieden machen können. (…) Wenn wir sehr bewußt sind, können wir etwas tun, den Lauf der Dinge zu ändern.(…)

Wenn Du ein Bergsteiger bist oder jemand, der das Land oder den grünen Wald liebt, weißt Du, daß die Wälder unsere Lungen außerhalb unserer Körper sind. Und doch haben wir in einer Weise gehandelt, die 2 Millionen Quadratmeilen Wald durch sauren Regen zerstört hat. Wir sind alle eingekerkert in unser kleines Selbst, denken nur an die Annehmlichkeiten für dieses kleine Selbst, während wir unser größeres Selbst zerstören. Eines Tages habe ich plötzlich gesehen, daß die Sonne mein Herz ist, mein Herz außerhalb dieses Körpers. Wenn das Herz meines Körpers nicht mehr funktioniert, kann ich nicht überleben. Aber wenn die Sonne, mein anderes Herz, aufhört tätig zu sein, werde ich ebenfalls sofort sterben. Wir sollten in der Lage sein, unser wahres Selbst zu sein. Das bedeutet, wir sollten in der Lage sein, der Fluß, der Wald, ein Russe zu sein. Das müssen wir tun, um zu verstehen und Hoffnung für die Zukunft zu haben. Das ist die Nicht-dualistische Weise des Sehens.(…)

Meditation zu praktizieren, bedeutet, um die Existenz von Leiden zu wissen. Die erste Dharma-Rede, die Buddha hielt, handelte vom Leiden und dem Weg aus dem Leiden heraus. In Südafrika leiden die Schwarzen gewaltig, aber die Weißen leiden auch. Wenn wir uns auf eine Seite stellen, können wir unsere Aufgabe der Versöhnung nicht erfüllen, um Frieden herbeizuführen.(…)

Deswegen müssen wir die Wahrheit sehen, wie sie wirklich ist und die Wirklichkeit anschauen. Unser Alltagsleben, was wir essen und trinken, hat mit der politischen Lage zu tun. Meditation bedeutet, tief in die Dinge hineinzuschauen, zu sehen, wie wir unsere Situation ändern und transformieren können. Unsere Situation zu transformieren bedeutet auch, unser Bewußtsein zu transformieren. Unser Bewußtsein zu transformieren bedeutet auch, unsere Situation zu transformieren, denn die Situation ist Bewußtsein und Bewußtsein ist die Situation. Es ist wichtig, daß wir erwachen. Die Natur der Bombe, die Natur des Unrechts, die Natur der Waffen und die Natur unseres eigenen Wesens sind gleich. Das ist die wahre Bedeutung von engagiertem Buddhismus.